Brunnen gehn
Früher waren Brunnen als zentrale Wasserstellen wichtige soziale Treffpunkte. Man machte Wäsche, traf die Nachbarschaft, tauschte sich aus und erfrischte sich – ihre Standorte waren allseits bekannt und ihr Wesen Teil von Geschichten und Mystik (Jungbrunnen, Glücksbrunnen, Heilbrunnen etc.). Mit der Erneuerung der Wasserversorgung und den ersten direkten Wasserleitungen in die Häuser vor ca. 100 Jahren ging diese soziale Funktion allmählich verloren.
Wobei, ist das wirklich so?
Gerade in der Stadt Winterthur, wo es keine Seen oder grössere Flüsse gibt, werden die Brunnen im Sommer gerne als Ort der Abkühlung und als soziale Treffpunkte genutzt. Man betrachte hierfür beispielsweise die Judd Brunnen in der Steinberggasse. Es gibt wohl keine warmen Sommertage, an denen sich keine Menschen ins kühle Brunnenwasser retten. Das Schöne daran: Kinder planschen neben älteren Menschen und sich „unbekannte“ Menschen kommen miteinander in Kontakt. Ein Grund dafür ist ein gemeinsames und ziemlich simples
Interesse: Brunnen gehen.
Badekulturen sind jedoch nicht nur in Winterthur ein verbindendes Element, wie ein Blick in die Welt zeigt. Das Bad in japanischen heissen Quellen, Onsen genannt, trägt schon fast rituellen Charakter mit klaren Abläufen und Geboten. In den Onsen sind Hierarchien (schon mangels repräsentativer Kleidung) aufgehoben; es ist ein Raum zur Entspannung und Heilung, wo die starren sozialen Strukturen Japans aufgeweicht werden. Ganz woanders, in Island, trifft sich die Dorfgemeinschaft zum Plaudern, Tratschen und gar austragen politischer Diskussionen im Heitur Pottur, den heissen Quellen.
Das warme Bad fördert somit ein niederschwelliges Luxus- und Kulturgut für jede(n) dar und verbindet die Gesellschaft. Es fungiert als Gleichmacher. Leider jedoch sind die Brunnen in Winterthur nicht warm. Das Brunnenbad im Winter ist nur was für die Mutigsten der Gesellschaft und lädt auch nicht zum längeren Verweilen ein. Da scheint eine Adaption naheliegend.
Brunnen gehn ist die Entfaltung einer Tradition: Brunnenheizer* innen verwandeln öffentliche Brunnen im Winter zu Badeorten. Mit 39°C warmem Wasser wird der soziale Austausch beheizt und der Alltag erfrischt.
Während der Wintersaison heizen die Brunnenheizer*innen mit einem mobilen Holzofen das Wasser öffentlicher Brunnen auf Badetemperatur.
Sie beleben Tags das Quartier und schaffen abends einen warmen Treffpunkt. Ab 18 Uhr können sich Badegäste an der Rezeption melden und werden von dort via Umkleidekabine und kalter Dusche ins Baderitual eingeführt. Bademeister*innen sorgen für Einhaltung der Baderegeln und für das allgemeine Wohlergehen.
Brunnen gehn reiht sich ein in die Schweizer Thermalbäderkultur und ist in seiner sozialen Wirkung vergleichbar mit den isländischen Hot Pots oder den japanischen Onsen. Im Brunnen verwischt die sozioökonomische Schicht, dafür fordert die ungewohnte Nähe zu fremden Körpern eine erhöhte Aufmerksamkeit; die Perspektive aus dem Brunnen, das dampfende Wasser, die Komplizenschaft mit den anderen Badenden schaffen einen speziellen Begegnungsort. Brunnen gehn ist im Kontext einer neuen Politik der öffentlichen Räume zu verstehen. Es ist ein Bestreben, den öffentlichen Raum zu demokratisieren und anhand eines konkreten Vorschlags zu verhandeln.
Eine Möglichkeit wie sich die Menschen der Stadt zu verantwortungsbewussten Stadtbewohner*innen emanzipieren können. Im Persönlichen ist es ein Aufruf zur aktiven Teilhabe und Mitgestaltung des Diskurses um Stadt und Zusammenleben.
Das offene Kollektiv Brunnen gehn Sektion Winterthur initiiert in regelmässigen Abständen während den Wintermonaten in verschiedenen Quartieren der Stadt das Brunnen gehen. Das Projekt gestaltet sich offen für Partizipation und Inputs von aussen. Das Mitwirken, einbringen von Ideen durch Menschen im Quartier
ist erwünscht. In Form von Erzählungen, Lesungen oder musikalischer Unterhaltung kann und soll der Abend zusätzlich inszeniert werden.
Räume diskutieren – Räume nutzen
Das Quartier sowie der öffentliche Raum wird als ein Gebiet verstanden, in welchem die Bewohner*innenschaft gemeinsame Bezugspunkte aufweist. Es ist dabei nicht primär ein physisches Gefäss, sondern wird vielmehr durch Aktivitäten, soziale Netze, Sozialstrukturen und Identitätsbezüge der Bevölkerung definiert. An was niemand denkt, das existiert im weiten Sinne auch nicht. Wie etwa Parks oder Brunnen im Winter. So soll das Projekt anregen über die Nutzung von öffentlichen und gemeinschaftlichen Orten zu diskutieren und Quartiere und Stadtteile zu schaffen die durch die da lebenden Menschen gestaltet und definiert werden.
Zusammenleben fördern
Menschen leben immer in Gesellschaften. Das Zusammenleben ist die Art wie Menschen miteinander existieren. Dieses Zusammenleben in einer zunehmend globalisierten und individualisierten Welt steht vor neuen Herausforderungen. Unsere Gesellschaft ist geprägt von Vorurteilen und Kulturalisierung. Um diesen entgegenzuwirken, braucht es Orte der Begegnung. Damit Vorurteile abgebaut, eine Kontaktaufnahme ermöglicht wird und Beziehungen und Freundschaften entstehen können, sind gemeinsame Erlebnisse wichtig. Das Projekt Brunnen gehn setzt sich zum Ziel, Menschen auf entspannter Ebene miteinander in Kontakt zu bringen.
Die Organisator*innen
Brunnen gehen Sektion Winterthur ist ein Verein, angegliedert an den Schweizerischen Verband pro fontaines chaudes, welches sich zum Ziel setzt, oben geschilderte Ideen und Massnahmen umzusetzen. Es organisiert sich in einem offenen Gefüge von Menschen, die den Zweck des Projekts unterstützen und / oder motiviert sind die Ideen weiter zu spinnen.
Energie
Klar, die Kritik ist berechtigt. Einen Brunnen auf 39° Celsius zu heizen verbraucht Energie. Vermeintlich Unmengen davon. Genauer ist es pro Durchführung im Durchschnitt knapp ein 1/4 Ster Schweizer Holz. In der Schweiz wächst ebenso viel Wald nach wie abgeerntet wird. Konkret heisst das, es wird ebenso viel CO2 durch die Schweizer Wälder gebunden, wie beim Verbrennen von Schweizer Holz freigesetzt wird.
Unser Ziel ist es, das Material mit Fahrrädern und Anhängern anzuliefern. Die Pumpe, die das Brunnenwasser durch unseren Holzofen pumpt und für Umwälzung sorgt, wird ganz durch menschliche Energie betrieben. Mittels einer Fahrrad-Konstruktion wird diese Pumpe betrieben.
Durch den Holzofen und den muskelbetriebenen Antrieb der Pumpe wird das Thema Energie gut sichtbar. Auch uns ist die Thematik der Energiekrise vollkommen bewusst. Die Sensibilisierung der Bevölkerung für dieses Thema ist uns neben dem sozialen Aspekt des Brunnen Gehns ein grosses Anliegen. So nehmen wir durch die Sichtbarkeit unserer verwendeten Energie bewusst Bezug zum Thema und suchen die thematische Auseinandersetzung mit der Quartierbevölkerung.
Eine zentrale Frage stellt sich aber unabhängig von der aktuellen Situation: Was ist der Kultur-Energieverbrauch-Nutzen? Wie wichtig ist soziale Vernetzung und Kultur für den Menschen und wie fest darf und soll in diesem Bereich gespart werden? Unter dem Strich schaffen Kulturschaffende ganz generell und wir im spezifischem mit diesem Projekt, positive Wirkungen auf den Menschen, beleben Quartiere, schaffen sozialen Austausch. Wir haben unseren Standpunkt; Kultur und soziales Engagement befriedigen bedingungslose Grundbedürfnisse des Menschen. Jedoch ist dieses Spannungsfeld natürlich diskutabel; am liebsten in einem warmen Brunnen!